Als Kirchhoff im Wintersemester 1854/55 sein Amt in Heidelberg antrat, mußte er sogleich die Vorlesungen halten, welche Jolly für dieses Semester angekündigt hatte, das waren:
Experimentalphysik sechsmal wöchentlich 11 – 12 Uhr,
Examinatorium über Physik mit einer Anleitung zum Gebrauch physikalischer Instrumente, Mo. bis Mi. 12 – 1 Uhr.
Kirchhoff übernahm diese Einteilung der Vorlesung und blieb in seiner ganzen Heidelberger Zeit dabei, las also in jedem Semester die Experimentalphysik an 6 Wochentagen einstündig. Es wird berichtet, er habe in seiner ganzen Heidelberger Zeit, also vom Wintersemester 1854/55 bis zum Wintersemester 1874/75 diese Vorlesung nur ein einziges Mal ausfallen lassen, nämlich am Samstag, dem 7. Dezember 1872; das war der Tag seiner zweiten Heirat.
Kirchhoff verwandte offensichtlich auch in Heidelberg noch viel Zeit auf die Ausarbeitung seiner Vorlesungen; erst ab 1857 erschienen wieder Veröffentlichungen eigener Arbeiten. Im Laufe der Jahre erweiterte er dennoch seine Lehrtätigkeit und begann auch Vorlesungen über Theoretische Physik zu halten, wozu er ja eine starke Neigung hatte. In den 60er Jahren las er dann neben den sechs Wochenstunden Experimentalphysik noch bis zu fünf Wochenstunden über Theorie.
Anstelle des Examinatoriums bot Kirchhoff ab 1856 jeweils im Sommersemester dienstags und freitags von 3 bis 5 Uhr Physikalische Übungen an. Er gehört damit zu den ersten die regelmäßig ein physikalisches Praktikum für Studenten ermöglichten. Ab dem Sommer 1858 sind in den Vorlesungsankündigungen keine Wochentage und Zeiten mehr angegeben. Aber Kirchhoff erweiterte das Praktikum und etwa ab 1862 bot er es – weiterhin jeweils im Sommer – an 6 Tagen halbtags an. Dafür wurde einer der Räume des Instituts benutzt und jede Woche ein anderer Versuch aufgebaut. Die Geräte für die einzelnen Experimente gab es jeweils nur einmal, dadurch war die Teilnehmerzahl begrenzt. Es konnte nur ein Student entweder am Vormittag oder am Nachmittag den Versuch durchführen. Wie das bei mehr als 12 Teilnehmern gehandhabt wurde, ist nicht überliefert. Zu den Übungen kamen nicht nur Physikstudenten sondern auch Mathematik- und Chemiestudenten.
Einmal in der Woche erklärte Kirchhoff allen Teilnehmern zusammen das durchzuführende Experiment und die nötigen Berechnungen. Der Student fand die Apparatur aufgebaut, aber nicht fertig kalibriert vor, und es wurde von ihm erwartet, daß er ohne weitere Hilfe die Anordnung einrichtete und zu einem korrekten Ergebnis kam. Allerdings kam Kirchhoff einmal vorbei, um zu helfen, wenn der Student in erhebliche Schwierigkeiten geriet. Die Ergebnisse mußten sorgfältig ausgearbeitet werden. Zu Beginn der nächsten Besprechung waren sie dann alle an die Tafel geschrieben, und Kirchhoff besprach die Ergebnisse und diskutierte auch die erreichbare Genauigkeit. – Die Ausarbeitungen der Versuche von Loránd Eötvös sind überliefert (siehe Abschnitt 6).
Zusätzlich zur Experimentalvorlesung bot Kirchhoff von 1855 bis 1871 in den Wintersemestern anstelle des Praktikums dreimal wöchentlich eine einstündige Vorlesung (Mo. Mi. Fr. 2-3 Uhr) „Theoretische Physik“ an, in der er einen Überblick über die gesamte damalige Theoretische Physik vortrug.
Darüber hinaus hielt Kirchhoff viele Vorlesungen über Teilgebiete der Theoretischen Physik in Berlin, in Breslau, in Heidelberg und wieder in Berlin. Er erweiterte diese Vorlesungen im Laufe der Jahre immer mehr und und entwickelte schließlich daraus in Berlin den ersten regelmäßig gehaltenen viersemestrigen Theoriekurs mit den Teilen: „Mechanik“, „Optik“, „Elektrizität und Magnetismus“ sowie „Wärme“; daraus entstand dann sein vierbändiges Lehrbuch „Vorlesungen über Mathematische Physik“. Den ersten Band „Mechanik“ schrieb Kirchhoff im wesentlichen schon in Heidelberg, gedruckt wurde er 1976. Die anderen drei Bände haben posthum Kurt Hensel (Optik) und Max Planck (Elektrizität und Magnetismus, Wärme) herausgeben, und zwar hauptsächlich nach den Vorlesungsheften Kirchhoffs sowie mehreren Zuhörerheften, die damals noch vorhanden waren. – Diese vier Bücher sind heute wieder als Nachdrucke lieferbar.
Seinerzeit veranstaltete die Heidelberger Universität immer am 22. November, dem Geburtstag des Kurfürsten Karl Friedrich von Baden, eine Jahresfeier. Karl Friedrich hatte nach den Wirren der Napoleonischen Kriege 1803 die Universität neu errichtet. Auf dieser Jahresfeier hatte der jeweilige Prorektor, Rektor der Universität war seinerzeit nominell immer der Landesherr, einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten. Im Jahre 1865 traf das Kirchhoff. Er sprach „Ueber das Ziel der Naturwissenschaften“ und gab dabei eine zusammenfassende Darstellung der damaligen physikalischen Vorstellungen, und das sind eben die Vorstellungen, welche seinen Lehrveranstaltungen zugrunde lagen. Grundprinzip war, daß alle Naturerscheinungen durch Bewegungen zustande kommen und deshalb sämtlich durch die Mechanik beschrieben werden können. Zentraler Begriff der Mechanik war die Kraft zwischen Teilen der Materie. Neben der Materie sollte es noch unwägbare Stoffe geben: den Äther, in dem sich das Licht ausbreitet, und zwei elektrische Flüssigkeiten, die die Ursache aller elektrischen und magnetischen Erscheinungen sind. Der bis dahin angenommene Wärmestoff war zu der Zeit bereits verworfen worden, Wärme sollte durch Bewegung der Materie entstehen. So mußte die Wärmelehre sich auf die Mechanik zurückführen lassen, daher kommt die damals übliche Bezeichnung „Mechanische Wärmetheorie“ für die Thermodynamik. Wärmestrahlung und Lichtstrahlen waren schon ihrem Wesen nach als gleich erkannt, aber die Existenz des Elektrons war noch nicht bemerkt worden, die Struktur der Atomhülle und damit das Entstehen der Spektrallinien waren noch unbekannt. Damit ist der physikalische Hintergrund mancher Kirchhoffscher Arbeiten – und eben auch einiger Passagen in seinen Vorlesungen – dem heutigen Leser schwer verständlich.