Gustav Kirchhoff war zu Lebzeiten nicht nur wegen seiner physikalischen Untersuchungen sehr bekannt und geschätzt, sondern ebenso sehr wegen seiner Vorlesungen; so mancher Student kam eigens, um bei ihm zu hören, nach Heidelberg oder Berlin. Philipp Lenard erwähnt in seinen Lebenserinnerungen, der Wunsch bei Kirchhoff zu hören habe ihn 1883 nach Berlin gezogen, wo er dann schwer enttäuscht wurde, denn Kirchhoff war erkrankt.
(Arne Schirrmacher: Philipp Lenard: Erinnerungen eines Naturforschers, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010)
Kirchhoff nahm seine Lehrverpflichtungen immer sehr ernst und erfüllte sie gewissenhaft. Er war der Ansicht, er habe „auffallend wenig die Rede in seiner Gewalt“ und wohl deshalb hat er seine Vorlesungen sorgsam in Heften ausgearbeitet und daraus vorgetragen. Agost Heller berichtet in seinem Nekrolog auf Kirchhoff zu diesen Heften:
„Kirchhoff benützte bei seinen Vorlesungen fast druckfertig zu nennende Vortragshefte, wie dies Schreiber dieser Zeilen, dem der Autor bei einer besonderen Gelegenheit einen Theil derselben zur Benützung überließ, und wahrscheinlich auch andere Schüler Kirchhoffs sehen konnten. Diese Vortragshefte enthalten die Mechanik im weiteren Sinne, ferner Optik, Wärmelehre, sowie die Theorie der Elektricität und des Magnetismus.“
Kirchhoffs Vorlesungshefte sind heute nicht mehr vorhanden. Lediglich im Archiv des Deutschen Museums in München liegt ein Band von 283 Seiten „Kirchhoff, Gustav: Vorlesungen über Electricität“ (Sign.:HS 1954-43), der offensichtlich von einem professionellen Schreiber stammt, mit geringfügigen Korrekturen von Kirchhoffs Hand. Er enthält die Abschnitte „Vertheilung der Elektricität auf zwei Leiter“, „Stationäre elektrische Ströme in Leitern“, „Stationäre Strömungen in einem planparallelen Leiter“ und „Magnetische Erscheinungen“. Es dürfte dies eine Abschrift von Kirchhoffs frühem Vortragsheft zur Elektrizität sein; so könnte Kirchhoffs erste Heidelberger Vorlesung über Elektrizität gewesen sein.
Die Vorlesungen gelangen Kirchhoff sehr gut, die meisten seiner Hörer, die darüber berichteten, lobten ihn sehr. Richard Meyer bemerkte: „Seine Vorlesung war ein Muster von Klarheit, die Form so sicher, daß ihm kaum jemals ein Anakoluth unterlief.“ Emil Warburg, der Vorlesungen in Heidelberg gehört hat, schreibt, Kirchhoff habe „vollendet schön gesprochen“. Ludwig Boltzmann beschrieb seine Eindrücke, die er 1870 bei einem gut zweimonatigen Aufenthalt in Heidelberg bekam, folgendermaßen „Kirchhoffs damalige theoretische und experimentelle Vorlesungen zogen Schüler aus allen Ländern herbei, denen er nicht bloß ein verehrter Lehrer und mächtig anregender Berater, sondern auch ein warmer Freund war. Sein Vortrag war ruhig, klar, sorgsam durchdacht, kein Wort zu viel, keines zu wenig. Seine experimentellen Demonstrationen waren stets präzise und elegant durchgeführt“.
(Ludwig Boltzmann: Gustav Robert Kirchhoff – Festrede zur Feier des 301. Gründungstages der Karl-Franzens-Universität zu Graz gehalten am 15.November 1887, Johann Ambrosius Barth, Leipzig, 1888)
Heinrich Hertz, der zum Wintersemester 1878/79 nach Berlin kam und bei Kirchhoff die Vorlesung über Elektrizität und Magnetismus hörte, schrieb an seine Eltern: „Was Kirchhoff vorträgt, ist mir allerdings einstweilen bekannt, aber er trägt es so vor, daß es wirklich ein Genuß ist, ihn zu hören, und gerade dadurch, daß ich die Resultate und die üblichen Ableitungsweisen schon kenne, habe ich vielleicht mehr Genuß davon“. Nur Max Planck äußerte sich in seiner „Wissenschaftlichen Selbstbiographie“ recht kritisch: „Kirchhoff trug ein sorgfältig ausgearbeitetes Kollegheft vor, in dem jeder Satz wohl erwogen an seiner richtigen Stelle stand. Kein Wort zu wenig, kein Wort zu viel. Aber das Ganze wirkte wie auswendig gelernt, trocken und eintönig. Wir bewunderten den Redner, aber nicht das, was er sagte“.